November

                                                      (Erzählung)

 

Und bliebe unsere Liebe auch ewig unbelohnt,

so ist sie durch sich selbst, in uns ganz stille, doch so schön,

dass sie uns immer unser liebstes, einziges bleiben soll.

 

Susette Gontard in einem Brief an Friedrich Hölderlin

 

 

Lange konnte sie nachsinnen über die Anordnung der Sterne am Himmel. Manche strahlten hell und klar, andere leuchteten nur schwach. Manche standen weit auseinander gerückt, andere vereinigten sich zu Gruppen und einige standen als Paare am weiten Nachthimmel.

Wie Zwillinge, dachte Celia.

Die Zweier-Sterne waren ihr die liebsten von allen. Sie stellte sich vor, dass es zwei Seelen waren, die sehr eng miteinander verbunden waren. Diese Vorstellung hatte etwas ungemein tröstliches: dass Seelen nicht allein waren im weiten Sternenraum, dass sie eine zweite bei sich hatten, die ihnen sehr nahestand und die ihnen die Kraft gab, noch heller zu leuchten.

 

aus dem Märchenspiel "Sterne der Erde"

 

                                                               

                                           
                                                                     ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ 
 
Die Blätter an den Bäumen und Sträuchern im Park verfärbten sich und wurden bunt. Dann lösten sie sich von den Zweigen und fielen sacht herab zur Erde. Die Dämmerung senkte sich immer früher herab auf die Stadt und hüllte alles in ihren samtweichen, blau-schwarzen Mantel. 

 

Sophia zündete die Kerze auf dem kleinen Tischchen an und lehnte sich dann im Sessel zurück. Mit beiden Händen umschloss sie fest die wärmende Teetasse. Ganz fest. Gedankenverloren starrte sie aus dem Fenster. Gerade hatte sich die Tür hinter ihm geschlossen. Zum letzten Mal. Diesmal zum allerletzten Mal. Er hatte ein paar Sachen abgeholt, die noch stehengeblieben waren. Und dann war er verschwunden. Verschwunden aus der Wohnung, in der sie zweieinhalb Jahre gemeinsam gelebt hatten. Verschwunden aus ihrem Leben.

 

Sophia saß regungslos und starrte angestrengt aus dem Fenster. Obwohl es da eigentlich gar nichts zu sehen gab, denn es war inzwischen vollkommen dunkel geworden. Es war dunkel, obwohl es erst später Nachmittag war. Viel zu früh war es dunkel.

 

Das Telefon läutete. Einmal, zweimal, dreimal. Sophia regte sich nicht. Das Telefon läutete zum vierten Mal, zum fünften Mal, zum sechsten Mal... Wer versuchte da so hartnäckig, mit ihr zu sprechen? Ach ja, das war bestimmt ihre Freundin Sandra, die fest entschlossen war, sie aufzumuntern. Die schwebte nämlich gerade im siebten Liebeshimmel, so wie ungefähr alle drei bis vier Wochen, wenn sie jemanden neu kennengelernt hatte. Sophia nahm einen Schluck aus der Teetasse. Dann saß sie wieder reglos. Sie hatte keine Lust, sich zu bewegen, sie hatte überhaupt keine Lust zu irgendetwas. Aber sie konnte auch nicht ewig so sitzen bleiben, obwohl sie am liebsten ihr restliches Leben in diesem schützenden Ohrensessel verbracht hätte. Nein, sie musste sich einen Ruck geben und irgendetwas tun. Irgendetwas. Es gab ja auch einiges aufzuräumen in der Wohnung, in der sie sich jetzt ganz neu einrichten musste. Genau wie sie ihr ganzes Leben neu einrichten musste. Aber sie hatte überhaupt keine Lust, etwas neu zu gestalten. Sie wollte nur ihren Gedanken nachhängen, den Gedanken, wie es einmal gewesen war und was hätte sein können, wenn nicht, ja wenn nicht...

 

Nein, halt, plötzlich wusste sie, was sie tun sollte. Sie würde einen Spaziergang in den Park machen. Immer wenn es ihr schlecht gegangen war in früheren Zeiten, war sie in den Park gegangen oder an einen anderen Ort in der Natur. Und das hatte sie immer aufgemuntert. Nur, so schlecht wie heute war es ihr noch nie gegangen, in ihrem ganzen Leben nicht. Außerdem war es dunkel draußen und kalt. Und es war November, das schöne, grüne Sommerlaub der Bäume war längst abgefallen, vertrocknet und in alle Winde verweht...
Aber das war ja auch eigentlich egal. Alles war egal jetzt. Sophia gab sich einen Ruck und erhob sich aus dem Sessel. Im Flur zog sie sich den warmen Mantel an und die Stiefel.
Die Straßen waren menschenleer und im Park war es sehr dunkel. Nur einzelne Laternen beleuchteten Teile des Weges. Sie ging schnell und atmete bewusst die kühle Luft ein. Es roch nach Herbst und bei jedem Schritt raschelte es zu ihren Füßen. Und ganz plötzlich kam die Erinnerung, die Erinnerung an frühere Herbste, an die Herbste daheim bei ihren Eltern, als sie noch viel jünger war und glücklich und als sie noch alles vom Leben erwartete, alles Schöne, das man sich nur vorstellen kann...

 

Auf dem Rückweg fühlte sich Sophia schon viel besser. Sie ging langsam durch die Straßen und sah hinauf zu den erleuchteten Fenstern. Dahinter sah man überall Menschen. Menschen, die arbeiteten, Menschen, die zu Abend aßen, Menschen, die miteinander sprachen, Menschen, die lachten. Da waren Menschen, die zusammen waren, und Menschen, die alleine waren. Da waren Menschen, die sich umarmten, und Menschen, die miteinander stritten. Sophia grübelte. Wie unterschiedlich und vielfältig die Lebenswege der Menschen doch waren! Wie kamen diese ganzen Schicksale überhaupt zustande? Warum sagten Menschen an einem Tag: Ich liebe dich, und am anderen war alles aus und vorbei? Wie sinnlos das alles zu sein schien!

 

Dann stand sie vor dem Haus, in dem sie wohnte, und betrachtete es. Sie hatte es immer sehr geliebt, denn es war ein schönes, stattliches, schon ziemlich altes Stadthaus, fast eine Villa. Im Erdgeschoss befand sich eine sehr große Wohnung, in der eine ältere Dame ganz allein wohnte. In den oberen Stockwerken gab es kleinere Wohnungen. Ihre eigene befand sich im ersten Stock. 

 

Oben war alles dunkel, aber im Erdgeschoss brannte Licht. Natürlich, dachte sie, Frau Wegener ging ja auch nur sehr selten aus dem Haus. Und sie bekam auch sehr selten Besuch. Ob sich die alte Dame wohl einsam fühlte? Darüber hatte Sophia noch nie nachgedacht. 
Sie hatte schon den Fuß auf der ersten Stufe der Treppe, als sie hörte, wie sich die Tür der Erdgeschosswohnung öffnete. Oje, dachte sie, ein unverbindlich-freundliches Gespräch, das war das Letzte, wonach ihr im Moment der Sinn stand. Aber es war zu spät. Frau Wegener hatte sie schon entdeckt. »Ach, Frau Berger, sie sind das! Da habe ich ja Glück! Könnten Sie mir wohl kurz helfen? Ich habe den alten, großen Koffer vom Schrank heruntergeholt und jetzt bekomme ich ihn nicht mehr hoch.«

 

Sophia folgte der alten Frau in das große Schlafzimmer. Dort herrschte ein wüstes Durcheinander. Auf dem altmodischen Doppelbett lagen unzählige Sachen verstreut, Papiere, Fotos, Postkarten, sogar alte, abgenutzte  Spielzeuge waren zu sehen. Auf dem Boden stand ein riesengroßer alter Koffer mit geöffnetem Deckel. Frau Wegener begann sich sogleich zu entschuldigen. »Sie müssen ja denken, dass ich fürchterlich unordentlich bin, Frau Berger, aber ich habe diese ganzen Sachen aus dem Koffer herausgeholt, um sie endlich einmal auszusortieren. Und dann habe ich mir das eine und das andere näher angeschaut und bin wieder in diese wehmütige Stimmung gekommen. Ach, in dieser Jahreszeit geht es mir meistens so. Diese frühe Dunkelheit, die bedrückt mich immer. Ich habe ja soviele Erinnerungen, schöne und auch nicht so schöne. Diese ganze Wohnung ist voll mit alten Erinnerungen. Ich lebe jetzt ja schon so lange hier. Ganz jung, mit achtzehn Jahren habe ich geheiratet und bin mit meinem Mann hier eingezogen. Oh, wie waren wir stolz auf die schöne, große Wohnung und wie waren wir glücklich! Und als dann später unser Sohn geboren wurde, da war unser Leben perfekt...«

»Ach, Sie haben einen Sohn?« fragte Sophia erstaunt. »Ich dachte, Sie hätten gar keine Angehörigen mehr, weil so selten jemand zu Besuch kommt!«

»Ja, mit meinem Sohn, das ist eine Geschichte für sich. Der ist vor vielen Jahren ausgewandert, nach Amerika, dem gefiel es hier nicht.Und dort hat er dann geheiratet, aber die Ehe hat nicht lange gehalten. Dann ist er nach Australien gegangen, weil, er wollte noch einmal ganz neu anfangen, das mit seiner Arbeit hat wohl auch nicht so gut geklappt. Aber er hat mir nie viel erzählt und er war auch nur ganz selten hier zu Besuch. Jetzt scheint es ihm aber sehr gut zu gehen da in Australien, er hat eine neue Frau mit der er sich gerade ein Haus gebaut hat – das ist vielleicht ein großer Kasten, sage ich Ihnen. Zwei kleine Kinder haben die beiden, warten Sie, irgendwo muss ich doch Fotos von ihnen haben...« 
Frau Wegener sah sich suchend um.
Sophia warf auch einen Blick auf die Fotos, die überall verstreut waren. Eines zeigte einen hübschen, dunkelhaarigen kleinen Jungen, der mit einem merkwürdig ernsthaften und unkindlichen Blick in die Kamera schaute. Sie nahm das Bild und hielt es der alten Dame hin. »Ist das Ihr Enkelkind?«
»Nein, nein, das ist Jost, mein Sohn. Als er klein war.«
Sophia starrte das Foto an. Der Blick des Jungen darauf hatte etwas an sich, das sie in ihrem tiefsten Innern berührte. 
Die alte Dame gab das Suchen auf.
»Ach, die Fotos von meinen Enkelkindern, die habe ich wahrscheinlich drüben, im Wohnzimmer. Wissen Sie was? Kommen Sie doch morgen zum Kaffee, dann können Sie sich alles in Ruhe anschauen. Ich backe so gerne Kuchen, aber für mich alleine lohnt sich das ja gar nicht und die Damen von meinem Kaffeekränzchen, die kommen so selten...«
Sophia zögerte. Sollte sie der alten, einsamen Frau diesen Wunsch abschlagen? Nein, das wäre nicht richtig und überhaupt, sie fand es eigentlich sehr nett, mit ihr zusammen zu sein.
»Natürlich, gerne« sagte sie.
                                     
                                                                    ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦
 
Beim Aufwachen am nächsten Morgen war zuerst alles wie immer, aber dann kam plötzlich die Erinnerung zurück und Sophia hättte am liebsten die Augen wieder geschlossen und wäre ins Reich der schönen Träume entflohen. Ihr Blick fiel auf das leere Bett neben dem ihren. Nein, da musste unbedingt etwas geändert werden. Möbel mussten gerückt und eine gewisse Ordnung wiederhergestellt werden. Außerdem war es unbedingt notwendig, dass sie einkaufen ging. Es war Samstag, ein ganzes langes Wochenende lag vor ihr. Ein langes und einsames Wochenende. Sie stand auf und begann, in der Wohnung herumzugehen. 

 

Das kleine Zimmer mit der Morgensonne und dem Blick in den Garten. Das hätte das Kinderzimmer werden sollen. Denn beide wollten sie eine Familie haben, eine laute und fröhliche Familie. Nun, jetzt würde es in dieser Wohnung weder laut noch fröhlich zugehen. Wahrscheinlich würde sie so enden wie Frau Wegener. Jeden Abend würde sie auf dem Bett sitzen und in ihren alten Erinnerungen kramen. In den Erinnerungen an schönere Tage. Sophia fröstelte und zog sich den Morgenmantel enger um die Schultern. Nein, so alt war sie ja noch nicht, noch keine dreißig Jahre alt. Sie konnte noch viel erleben. Viel Schönes. Nur, was das sein sollte, das konnte sie sich im Moment beim besten Willen nicht vorstellen.
Als sie sich angezogen hatte und gerade aus dem Haus gehen wollte, läutete das Telefon wieder. Sollte sie rangehen? Widerwillig nahm sie den Hörer ab. 
»Hi, Sophia, bist du‘s?« Es war ihre Freundin Sandra, die wie immer ohne Punkt und Komma redete. »Was ist denn bei dir los? Ich habe so oft versucht, dich zu erreichen. Du, lass den Kopf jetzt nicht hängen. Und du darfst dich auf gar keinen Fall verkriechen! Ich habe eine gute Idee, wie du auf andere Gedanken kommen kannst. Morgen will ich mit Henning, du weißt schon, mein neuer Freund, eine richtige kleine Bergwanderung machen. Er kennt da einen Platz, von dem man eine ganz tolle Aussicht hat. Und er will seinen Freund mitbringen, Till. Du, der ist sooo nett! Willst du nicht auch...«
»Ja, ja«, sagte Sophia. Sie hatte nicht die Kraft, ihrer Freundin abzusagen, obwohl sie nicht die geringste Lust hatte mitzukommen. Genausowenig wie sie die Kraft gehabt hatte, Frau Wegener die Einladung abzuschlagen. Aber das hatte sie auch gar nicht wirklich gewollt. Die war so nett und sie tat ihr auch leid. Und sie hatten jetzt ja auch viel gemeinsam. Vielleicht sollte sie sich die alte Dame als neue Freundin aussuchen. Zu der würde sie in ihrem Zustand auf jeden Fall besser passen als zu Sandra, die solch eine übertriebene Fröhlichkeit verbreitete.

 

Pünktlich um 16.00 Uhr klingelte Sophia an der Tür im Erdgeschoss. Frau Wegener, die öffnete, war ganz aufgeregt. 
»Ich muss Ihnen unbedingt etwas erzählen, Frau Berger!« flüsterte sie ihr zu. 
»Ach, bitte, sagen Sie ruhig Sophia zu mir.« 
»Ja, ja, Sophia. Kommen Sie doch erst einmal in die Küche. Es ist nämlich etwas passiert. Etwas ganz Unglaubliches.«
Die geräumige Küche war erfüllt von Kaffeeduft und man konnte sehen, dass die alte Dame in den letzten Stunden sehr beschäftigt gewesen war. Überall stand Geschirr herum und man sah alle möglichen Arten von Backwaren.
»Er ist gekommen!« sagte Frau Wegener bedeutsam.
»Wer ist gekommen?«
»Na, Jost, mein Sohn, von dem ich Ihnen so viel erzählt habe! Der erst in Amerika gelebt hat und dann in Australien...«
»Ach so«, nickte Sophia verstehend, »Der ist gekommen? Hierher? Aber wie ist denn das auf einmal passiert? Der war doch so glücklich mit seiner zweiten Ehefrau und den beiden Kindern und dem tollen Haus...«
»Das ist alles vorbei!«
»Alles vorbei?« Sophia schüttelte den Kopf. »Aber das kann doch nicht sein!«
»Doch, er hat mir noch nicht viel erzählt, aber ich glaube, da ist so einiges zusammengestürzt in seinem Leben. Es geht ihm gar nicht gut. Natürlich nicht. Ach ja...« Frau Wegener seufzte. »Nun ist er hier, 
aber schön ist das auch nicht so... Können Sie ihn nicht ein wenig aufmuntern?«
»Ich glaube nicht...« setzte Sophia an. Na, das war ja eine schöne Aufgabe, dachte sie insgeheim. Da sollte sie einen älteren Mann aufmuntern, den sie noch nie gesehen hatte und dem gerade das ganze Leben zusammengebrochen war. Dabei hatte sie doch selbst Aufmunterung nötig. Ihr Leben war zwar nicht so aufregend gewesen wie das von Frau Wegeners Sohn, aber es hatte doch immerhin eine gewisse Stabilität gehabt. Eine Stabilität, die jetzt weggefallen war. Nein, eigentlich hatte sie überhaupt keine Lust auf jemanden, der gerade Ähnliches erlebt hatte und der am Boden zerstört sein musste. Ob sie sich wohl noch mithilfe einer Ausrede vor diesem Kaffeetrinken drücken konnte? Aber Frau Wegener ließ ihr gar keine Zeit, diese Ausrede zu erfinden. »Gehen sie schon einmal vor!« drängte sie. »Sagen Sie Jost guten Tag. Er sitzt im Wohnzimmer.«

 

Der große, runde Esszimmertisch, der im Erker mit den vielen Fenstern stand, war voll beladen mit Kuchen und anderen Leckereien. Gut, dachte Sophia. Süßes hatte immer so eine tröstende Wirkung, zumindest fürs erste, wenn der Kummerspeck noch nicht angesetzt war. Da sah sie den groß gewachsenen, dunkelhaarigen Mann, der am Tisch saß. Für einen kurzen Moment begegneten sich ihre Blicke. Und da wusste Sophia nicht, wie ihr geschah. Es war, als täten sich Welten auf. Es war, als befände sie sich plötzlich in ganz anderen Räumen, in anderen Zeiten. Sie war sich mit einem mal ganz sicher, dass sie diesen Mann schon seit Ewigkeiten kannte. Sie hätte hinterher gar nicht sagen können, wie lange dieser unglaubliche Blick gedauert hatte. Es kam ihr vor, als wäre eine endlos lange Zeit vergangen...

 

Plötzlich war sie wieder in der ganz gewöhnlichen Alltagswelt und ihr wurde bewusst, dass sie irgendetwas sagen musste. »Hallo«, stammelte sie, »ich bin...«
»Sie sind bestimmt Sophia Berger«, half ihr der Mann, der Jost sein musste. »Meine Mutter hat mir schon viel von Ihnen erzählt.« Höflich erhob er sich, um ihr die Hand zu reichen.
»Ja...« Sophia versuchte, ein kleines Lächeln aufzusetzen. Oh Gott, wie peinlich, dachte sie, nicht einmal ihr eigener Name war ihr eingefallen. Wie sollte sie dann ein ganzes Kaffeetrinken durchstehen mit diesem sonderbaren Mann? Wie sah er überhaupt aus? Bisher hatte sie ja nur die Augen wahrgenommen, diese unglaublichen Augen, die ihr irgendwie bekannt vorkamen. Zum Glück kam da Frau Wegener in den Raum und richtete geschäftig etwas auf dem Tisch. 
»Setzen Sie sich doch« sagte sie freundlich zu Sophia und rückte ihr einen Stuhl zurecht. Dankbar ließ diese sich darauf sinken. Ihr Gehirn war wie leergefegt. Ihr fiel nichts ein, was sie sagen konnte, gar nichts. Sie tat so, als widme sie sich ganz ihrem Kuchenstück, während sie fieberhaft nach passenden Gesprächsthemen suchte. Meine Güte, Australien, davon hatte sie überhaupt keine Ahnung. Verstohlen sah sie immer mal wieder hinüber zu Jost. Der schien auch völlig in seinen Gedanken versunken zu sein. Sein Gesichtsausdruck war starr und unergründlich. Nur seine Augen verrieten die tiefe Traurigkeit. Eigentlich war er ein gut aussehender Mann. Wenn nur nicht diese tief eingegrabenen Sorgenfalten gewesen wären. Sophia schätzte, dass er ungefähr 15-20 Jahre älter war als sie. Welten trennten sie also auch hier. Was ging nur in diesem Mann vor, fragte sie sich. Das vertraute Gefühl, das sie ganz am Anfang gehabt hatte, war völlig verschwunden. Es war, als wenn ein Vorhang wieder gefallen wäre. Warum nur hatte sie geglaubt, ihn zu kennen? Sie waren sich doch im ganzen Leben noch nie begegnet.
Die arme Frau Wegener versuchte, das Gespräch in Gang zu halten. Sophia wollte sie nicht enttäuschen, denn sie hatte sich so viel Mühe gegeben und so viele schöne Sachen gebacken. Vielleicht sollte sie nach den Rezepten fragen, überlegte sie. Normalerweise backte sie auch sehr gern und freute sich über neue Anregungen. Nur im Moment merkte sie überhaupt nicht, was sie da eigentlich aß. Es fühlte sich fast an, als habe sie Sand im Mund.
»Ach, ich finde, im November wird es immer zu früh dunkel« seufzte da die alte Dame »Und dann immer dieses Regenwetter! Soll ich das Licht schon einschalten?«
»Nein, nein« sagte Sophia schnell. »Das Licht von der Kerze ist so gemütlich.« Es war ihr nämlich ganz recht, wenn es etwas dunkler war. Da fiel es nicht so sehr auf, dass ihr Gesicht glühte. Das Wetter war auch ein gutes, unverfängliches Gesprächsthema, fand sie. Deshalb beeilte sie sich zu sagen: »Aber heute hat auch manchmal die Sonne geschienen. Sie müssen unbedingt einmal in den Park gehen, Frau Wegener, Sie werden sehen, dass es dort auch im Herbst sehr schön sein kann...« Sie brach ab und ihr Blick begegnete dem von Jost. Sein Gesichtsausdruck ließ vermuten, dass er schon seit einiger Zeit keine Sonne gesehen hatte.
»Ach, wissen Sie,« seufzte Frau Wegener wieder, »meine alten Knochen, die vertragen diese Kälte überhaupt nicht. Nein, ich bleibe lieber hier am Ofen sitzen und wärme meine Glieder. Zumindest bis wieder der Frühling kommt. Möchtest du noch ein Stückchen, Jost? Hier, das war früher dein Lieblingskuchen. Weißt du noch?«
Der Angesprochene schaute auf seinen Teller. Nein, er hatte keinerlei Ähnlichkeit mehr mit dem hübschen Jungen, den sie auf dem Bild gesehen hatte. Oder vielleicht doch? Die Augen, es waren die Augen, die hatten so etwas Tiefgründiges. Woher kannte sie diese Augen?
Irgendwann hatten sie das Kaffeetrinken hinter sich gebracht und standen auf. Frau Wegener ging in die Küche, um ihr noch ein großes Kuchenpaket zurechtzumachen, dass sie mit nach oben nehmen konnte. Nachdem er sich kurz verabschiedet hatte, verschwand Jost in einem der hinteren Zimmer. Er wollte wohl keine überflüssige Minute mit ihr verbringen, dachte Sophia trübsinnig.

 

Als sie wieder in ihrer Wohnung war, sank sie in ihren Lieblingssessel und schloss die Augen. Meine Güte, war das peinlich gewesen! Was war nur los mit ihr? Noch nie in ihrem Leben hatte etwas sie derartig aus dem Gleichgewicht gebracht. Da kam ihr ein Gedanke, ein merkwürdiger Gedanke. Konnte es sein, dass sie sich in diesen Mann verliebt hatte? Nein, ausgeschlossen. Geliebt hatte sie Jörg und sie wusste ganz genau, wie sich das anfühlte. Herzlicher, wärmer, friedlicher. Jetzt fühlte sie sich kein bisschen friedlich. Ganz im Gegenteil. Sie fühlte sich wie in ihren Grundfesten erschüttert. Als sei ihr Leben auf den Kopf gestellt und dann kräftig durchgerüttelt worden. Und doch war es auch so, als hätte ihr Leben einen neuen Mittelpunkt bekommen, als hätte ihr persönliches Universum eine neue Sonne bekommen. Nur, wie kam dieser Jost, dieser verschlossene, grüblerische, unfreundliche Kerl dazu, ihr neuer Lebensmittelpunkt zu sein? Sie kannte ihn nicht einmal richtig. Er hatte gar nicht mit ihr sprechen wollen, sich überhaupt nicht für sie interessiert. Nein, das hier war etwas ganz anderes als Verliebtsein.
Nur was?
Es wurde wirklich Zeit, dass sie wieder unter ganz normale Leute kam. Unter fröhliche Leute, die ihr Leben genossen. Der Ausflug morgen war genau das richtige, der würde sie auf bessere Gedanken bringen.
                                               
                                                                   ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦
 
Sandra hielt am Straßenrand und schaltete den Motor aus. Sie sah Sophia an, die neben ihr auf dem Beifahrersitz saß. »Na, was habe ich dir gesagt? War das nicht ein toller Tag? Und ist dieser Till nicht süß? Er hat wirklich gesagt, dass er dich anrufen will? Du bist ein Glückspilz! Wenn ich nicht gerade mit Henning zusammen wäre...« 
»Das will ich jetzt nicht gehört haben« sagte Sophia mit gespielter Strenge. »Aber du hast recht, es war wirklich ein schöner Tag. Und Till ist ein netter Kerl.« Sie stieg aus und verabschiedete sich gut gelaunt von ihrer Freundin. »Tschüss, mach‘s gut! Bis bald dann!«

 

Leise summend ging sie die Straße entlang. Ja, Till war ihr wirklich symphatisch gewesen. Und sie hatten viel gelacht. So einen angenehmen und unbeschwerten Tag hatte sie schon lange nicht mehr erlebt. Mit Jörg war alles so anstrengend gewesen. Da konnte man nicht einfach nur so genießen, einfach nur herumalbern und fröhlich sein. Ob Till sie wirklich anrufen würde? Er sah gut aus, er hatte sicher viele Kontakte zu Frauen und würde sie schnell vergessen.

 

Als sie durch den Vorgarten auf ihr Haus zuging, öffnete sich die Tür und ein Mann wurde sichtbar, ein großer, kräftig gebauter Mann. Ihre Blicke trafen sich und Sophias Herz setzte für einen Moment lang aus. Jost, es war natürlich Jost, dieser merkwürdige Sohn von Frau Wegener. Was war nur los mit ihr? Oder besser gesagt: was hatte dieser Mann an sich, dass er sie so aus dem Gleichgewicht brachte?

 

Da geschah etwas, mit dem sie nie im Leben gerechnet hätte: Als Jost näher kam, erhellte ein Lächeln sein Gesicht. Dieses Gesicht, das doch immer so ernst gewesen war. Das geradezu beunruhigend ernst gewesen war. Dieses unerwartete Lächeln veränderte das ganze Gesicht, nein, nicht nur das ganze Gesicht, es veränderte praktisch den ganzen Menschen. Sophia konnte nicht anders, sie musste zurück lächeln.Wie magnetisch voneinander angezogen, gingen sie aufeinander zu. Sophia schwebte fast, sie fühlte sich so gut wie noch nie in ihrem Leben. Sie wünschte sich, dieser Augenblick würde ewig dauern. Viel zu schnell standen sie direkt voreinander. Da ihnen aber beiden nichts Rechtes einfiel, begrüßten sie sich nur mit einem kurzen »Hallo«. Und dann mussten sie auch schon wieder aneinander vorbei gehen. Dann mussten sie beide wieder ihres Wegs gehen  und der magische Augenblick war vorbei.

 

Hinterher wusste Sophia nicht, wie sie in ihre Wohnung gekommen war. Irgendwann saß sie wieder in ihrem altvertrauten Sessel am Fenster. 
Aber nun war alles anders. Vollkommen anders. 

 

Draußen war es dunkel. Die undurchdringliche Novemberdunkelheit stand vor dem Fenster wie eine Wand. Aber das machte nichts. Jetzt war zwar November, aber nicht mehr lange, dann würde das erste Licht auf dem Adventskranz leuchten. Dann wäre Weihnachten nicht mehr weit. Und von Weihnachten an würden die Tage schon wieder länger werden. Nur wenige Wochen später, dann würden sich schon die ersten kleinen Blumen aus der Erde wagen, zuerst die Schneeglöckchen und die Winterlinge, dann die Krokusse... Es ging zwar manchmal bergab, aber es ging auch immer wieder bergauf. Sowohl im Jahreslauf als auch überhaupt im Leben. Es gab Zeiten, in denen es so aussah, als ob nichts mehr weiterginge und es gab Zeiten, in denen man meinte, vor Freude zerspringen zu müssen.

 

Sophia zündete die Kerze auf dem kleinen Tischchen an und lehnte sich dann im Sessel zurück. Warum nur war es so, als wenn die Welt um sie herum plötzlich heller geworden wäre? Warum würde es ihr überhaupt nichts ausmachen, wenn sie ihr ganzes restliches Leben in diesem Sessel verbringen müsste? Und: Warum, um Himmels willen, hatte sie dieses geradezu idiotische Grinsen auf dem Gesicht, das nicht mehr verschwinden wollte?
War sie vielleicht doch in Jost verliebt? Schwebte sie deshalb wie auf Wolken? Sah sie deshalb alles durch eine rosarote Brille? 
Nein, das hier war nicht etwas, das sie schon einmal in ihrem Leben erlebt hatte. Und es war auch nicht etwas, das sie schon einmal bei anderen Menschen beobachtet hatte.
Es war nicht Verliebt-Sein. 
Es war Liebe. 
Und alles war anders jetzt. Vollkommen anders.
                                       
                                             
 

 

Druckversion | Sitemap
© Daniela Göken